Keine Panik mehr schieben
Michael Munzel
Über den Zusammenhang von Selbstberuhigungsfähigkeit, Regeneration und Grundvertrauen
und ein Verständnis von Multipler Sklerose
Jede Erkrankung, zumal wenn sie schwerwiegend und langanhaltend ist, belastet das Grundvertrauen. Grundvertrauen ist jedem Menschen eigen und ein wesentlicher Teil dieses Grundvertrauens ist ausreichendes Vertrauen in die eigene Gesundheit.
„Sie wird es schon richten und Unheil von mir fernhalten“, so könnte diese Art von Grundvertrauen sich formulieren lassen. Wenn dieses Grund-vertrauen leidet, wenn der Körper plötzlich nicht mehr selbstverständlich funktioniert, dann bekommt der Mensch es zwangsläufig mit der Angst zu tun. Wie mir viele meiner MS-Patienten berichteten, kennen sie dieses Hadern mit einem Körper, der nicht funktioniert. Mehr noch, dass ihr Körper nicht funktioniert, geht ihnen auf die Nerven und wenn es schlimm kommt, und der Körper mit Ausfällen droht, dann nimmt die Angst Überhand und Panik ergreift sie. Mit allen möglichen, geeigneten und weniger geeigneten Mitteln, versucht die betroffene Person, sich zu beruhigen. Kleine Menschen rennen, wenn sie Beruhigung brauchen, instinktiv zu ihrer Mama, große Menschen haben es da schwerer. Sie können sich, mehr oder weniger vertrauensvoll an Fachautoritäten, Institutionen, o.ä. wenden. Wenn das Ganze nichts nützt und sich die Angst nicht beruhigen lässt, dann bricht sie regelmäßig durch und wird motorisch: der Mensch schiebt Panik.
Von Bindung und der Offenheit des menschlichen Gehirns
Multiple Sklerose wird auch als „die Krankheit mit den tausend Gesichtern“ beschrieben. Meines Erachtens liegt der Grund in der Natur des menschlichen Gehirns und seines Nervensystems. Dieses Gehirn unterliegt biologischen, hormonellen und neurologischen Gesetzmäßigkeiten. Darüber hinaus ist es auch der Sitz elementarer psychischer Funktionen. Denken, Wahrnehmen, Empfinden, Vertrauen, Angst- und Beruhigungsfähigkeit usw. Die Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit des menschlichen Gehirns ist nicht nur atemraubend. Das Gehirn ist bekanntermaßen auch einzigartig. Da verwundert es nicht, dass die Erkrankung eines Gehirns, sich von der Erkrankung eines anderen Gehirns unterscheidet. Die Sachlage wird außerdem noch dadurch verkompliziert, dass eine Erkrankung des Gehirns (samt Nervensystem) auch naturnotwendig die Psyche involviert.
Eine Grundvoraussetzung dafür, dass ein Gehirn sicher ausreifen und seine Funktionen entfalten kann, ist das sogenannte Grundvertrauen in eine Bezugsperson, die für Sicherheit und Schutz sorgt und Fürsorge garantiert. Eine solche auf Grundvertrauen gründende Beziehung wird im Rahmen der Bindungstheorie als Bindungsbeziehung beschrieben. Sie ist verlässlich, behütend, wohlwollend und eben vertrauensvoll. Die Beeinflussung und Ausprägung der Gehirnausreifung wiederum, und die daran gebundene Entfaltung psychischer Funktionen wird Bindung genannt. Bindung beginnt mit der Mutter – Kind – Bindung. Diese Bindung hat die Aufgabe, dem offenen und Reifung benötigten Gehirn Schutz, Ruhe und Fürsorge zu sichern. Bindung ist damit ein tief in der Natur verankerte Prozess, der sich prägend auf die Gehirnentwicklung auswirkt. Die Komplexität dieses Prozesses hat sich begrifflich darin niedergeschlagen, dass dieser Prozess nicht Prägung genannt wird (wie es bei Tieren üblich ist), sondern Bindung. Die menschlichen Bindungen durchziehen dann auch das ganze menschliche Leben. Von der Mutterbindung, Vaterbindung, den familiären, kulturellen, sozialen Bindungen, über die Verbundenheit mit der Natur, der Partnerbindung, Freundschaften usw. erreichen sie jede Entwicklungsphase des menschlichen Lebens.
Durch die vielschichtigen Prägungen, die sich aus den unterschiedlichen Bindungen in unterschiedlichen Lebensphasen ergeben, baut der Mensch sein eigenes Selbstvertrauen auf und entwickelt eigene Formen der Selbstberuhigung. Die Beobachtung und Erfahrung mit meinen MS-Patienten lehrte mich, dass die eigene Form der Selbstberuhigungsfähigkeit nur schwach ausgeprägt wurde. Stattdessen stand die Selbstberuhigung unter starken, prägenden Einflüssen. Die Selbstberuhigungsfähigkeit steht zum Beispiel unter dem Zwang, zur Ruhe kommen zu müssen, sie ist in einem anderen Beispiel davon geprägt, Ängste zu unterdrücken bzw. niederzukämpfen. Ein Anderer braucht die vertraute Umgebung, wieder Andere eine enge Beziehung. Allen, individuell sehr unterschiedlichen Ausprägungen der Selbstberuhigungsfähigkeit, ist – bei aller Verschiedenheit – eines gemein: Die Fähigkeit, sich mit den eigenen Ängsten vertraut zu machen, leidet nicht nur. Ängste sind vielmehr häufig nicht erwünscht. Sie sollten nicht sein. Sie stören. Die mit Abstand häufigste Formulierung lautet: Sie nerven.
Aus welchen Erfahrungen auch immer eine solche Angsteinstellung hervorgegangen sein mag, sie hat verständlicherweise nicht dazu geführt, dass die eigene Selbstberuhigungsfähigkeit geschult und genutzt wird. Stattdessen müssen verinnerlichte Sicherheiten (an die sich dann zwangsläufig geklammert wird) den Mangel an Vermögen, sich selbst zur Ruhe bringen zu können, ausgleichen helfen. Während am Anfang des Lebens die Sicherheit und das Grundvertrauen eines jeden Menschen an die jeweiligen Bezugspersonen gebunden ist, wird diese Abhängigkeit im Laufe der Ausreifung des eigenen Gehirns abgelöst. Die eigene Selbstsicherheit und das Sich-selbst-im Grunde-vertrauen löst diese Abhängigkeit. Der erwachsene Mensch kann sich aus seinem eigenen Grundvertrauen beruhigen und muss dafür nicht mehr auf Vertrauensbeziehungen zurückgreifen. Anders ausgedrückt: gegebenenfalls kann ein erwachsener Mensch sich selber beruhigen, der Angst ins Auge schauen und geeignete Schritte einleiten. Auch unabhängig von nahestehenden Bezugspersonen, kann die jeweilige Person mit den Bedrohungen und den Ängsten des Lebens umgehen. Eine solche Ablösung gelingt nur unvollständig, wenn die eigene Selbstsicherheit und Selbstberuhigungsfähigkeit in ihrer Ausreifung und Entfaltung gelitten hat.
Grundvertrauen und Selbstberuhigungsfähigkeit
Die therapeutische Absicht, die ich verfolge, besteht darin, dass ureigene Grundvertrauen, welches in jedem Menschen wohnt, zu stärken und sich allmählich von anderen Vertrauenserfahrungen zu lösen. So kann ein Grundvertrauen wachsen, dass sich nicht auf zweifelhafte Sicherheiten stützen muss oder in zu große Beziehungsabhängigkeit gerät. Der Zusammenhang, von Grundvertrauen einerseits und der Fähigkeit zur Selbstberuhigung andererseits, erwies sich als therapeutisch tragfähig. Je mehr es gelang, die Selbstberuhigung von alten Grundsicherheiten, die in ihren elementaren Zügen bereits als Kind verinnerlicht worden waren, zu lösen und durch ureigenes Grundvertrauen (sogenanntes intrinsisches Vertrauen) zu ersetzen, desto weniger wurden die Patienten von Ängsten geplagt und desto weniger wurden sie von belastenden Panikschüben, die dann mit viel Energie und Angstunterdrückung niedergekämpft werden müssen, heimgesucht. Die gesundheitsfördernde Wirkung liegt auf der Hand. Angst bedeutet Stress für den ganzen Organismus und zeigt sich in vielen Ausdrucksformen von Stress. Ein Stress, der an den Nerven zehrt, und die Regenerationsfähigkeit insgesamt schwächt. Somit reduziert die wachsende Fähigkeit zur Selbstberuhigung den Stress. Der Zusammenhang von Selbstberuhigungsfähigkeit und Grundvertrauen ist von großer psychotherapeutischer Bedeutung. Ich stelle folgende These auf:
Die intrinsische, d.h. in der Person selbst angelegte Form des Grundvertrauens, ist direkt an die Selbstberuhigungsfähigkeit angebunden.
Sie hat sich bereits bestätigt und muss sich weiterhin therapeutisch bewähren. In der Konsequenz führt sie zu praktisch überprüfbaren Ergebnissen. Das Grundvertrauen wächst, wenn die Selbstberuhigung auch wirklich im Ich – selbst - sein der Person verankert ist. Und umgekehrt: je mehr intrinsisches Grundvertrauen vorhanden ist, desto mehr wird das Vertrauen in die eigene Selbstberuhigungsfähigkeit gestärkt. Im Rahmen einer solchen Behandlung wird somit die Angstkontrolle und Angstverarbeitung auf eine Basis gestellt, indem Grundvertrauen und Selbstberuhigungsfähigkeit sich wechselseitig aufbauen. Insgesamt nimmt somit die Fähigkeit, sich aufkommenden Ängsten zu stellen und durch Vertrauen im erträglichen Rahmen zu halten bzw. insgesamt weniger Ängste zu entwickeln, sukzessive zu.
Keine Panik
Wachsendes Grundvertrauen und gefestigte Selbstsicherheit sind selbstverständlich in vielen therapeutischen Verläufen und im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Störungsbildern von Bedeutung. Im Zuge der Behandlung der Patienten, die an MS erkrankt waren, drängten sich im fortschreitenden therapeutischen Verlauf nun zwei spezifische Aspekte in den Vordergrund. Sie brachten mich zu der Erkenntnis, dass die Natur des Vertrauens nicht in jedem Menschen gleich beschaffen ist. Aufgrund der genetischen Veranlagung, bzw. der jeweils einzigartigen Persönlichkeit, bindet sich das Vertrauen an unterschiedliche psychische Elemente. Der eine Mensch gewinnt sein Grundvertrauen aus seiner Intelligenz, ein anderer aus seiner Beziehungsfähigkeit, wieder ein anderer aus seiner Verstandesbegabung usw. Um das Grundvertrauen zu erreichen, besteht deshalb die therapeutische Aufgabe, die jeweilige Eigenart des Grundvertrauens zu ermitteln und zur Entfaltung zu verhelfen.
Am Problem besteht kein Zweifel. Wenn Ängste sich nicht wirklich beruhigen lassen, und damit eine untergründige Angstbereitschaft existiert, die am Besten noch nicht einmal wahrgenommen werden soll, dann wird diese Angst auch früher oder später die Psychomotorik erfassen. Wird die Angst motorisch, dann schiebt der Patient Panik!
Die gute Nachricht ist nun, dass auch das Vertrauen sich motorisch Bahn brechen kann. In der motorischen Umsetzung von Grundvertrauen gewinnt der jeweilige Klient an Zutrauen. Er oder sie kann das Vertrauen auch TUN, d.h. sich etwas Zutrauen und das Zutrauen auch in die Tat umsetzen. „Das Grundvertrauen sich Bahn bricht, ist gar nicht so einfach!“ so lautet übereinstimmend die Entgegnung meiner MS Patienten. Die inneren Störenfriede beim Ausbau von Grundvertrauen sind vielfältig. Der Eine sagt, dass er eine chronische Skepsis in sich trägt, der andere spricht von krankmachenden Überzeugungen, wieder andere werden von Selbstzweifeln geplagt, eine weitere erwähnt die Angst, überhaupt zu vertrauen...
Allen gemeinsam ist, dass die jeweilige Schädigung des Grundvertrauens, die bereits seit langem in Fleisch und Blut übergegangen ist, mit vereinten Kräften entgegengewirkt werden muss. Diese innerlich wirksamen Schädigungen stehen sonst Entfaltung, Wachstum und Reifung von Grundvertrauen im Wege. Außerdem sind sie alle potentielle, innere Quellen, um Ängste und Panik zu schüren.
Bewegungsvertrauen
Motorik ist nun bekanntlich an Bewegungsabläufe gebunden. Wenn Angst die motorische Bewegung ergreift, gibt es Panik. Die ausdrückliche Verbindung von Bewegung und Panik, führte zu einem neuen Gedanken. Was passiert, so fragte ich mich, wenn Grundvertrauen die Bewegungsumsetzung (Motorik) erfasst? Nun wurde es spannend! Ich konnte beobachten, dass weniger Panik entwickelt wurde und es gab mehr Ereignisse, Absichten und Vorhaben, welche den Patienten im positiven Sinne einen Schub versetzten. Einen auf Grundvertrauen gründenden Bewegungsschub. Wahre Eigenmotivation. Engagement, Vertrauen in Bewegung ganz generell, wachsende Motivation...Die Liste an psychischen Prozessen, die hier betroffen sind, ist lang.
Im Unterschied zu anderen Typen von Grundvertrauen, fand ich im Zusammenhang mit MS insbesondere das BEWEGUNGSVERTRAUEN als Typ von Grundvertrauen. Konnte das sein?
Ich wusste, dass Vertrauen ohnehin eine starke Verbindung zur Bewegung besitzt, schließlich ist Vertrauen unter anderem die Fähigkeit, etwas laufen lassen zu können. Im Rahmen der psychomotorischen Entwicklung kommt dem Grundvertrauen quasi die Rolle als „Türöffner“ zu. Grundvertrauen entlastet damit das Nervensystem, weil es der Motorik Bahn bricht.
Wenn mangelndes Grundvertrauen die Fortbewegung stoppt, dann können sich motorische Impulse nicht frei entfalten. Wenn die Motorik eingeschränkt ist, dann wird wiederum diese spezielle Art von Grundvertrauen leiden. Diese Art des Grundvertrauens hat in der Bewegungsfreiheit nun einmal ihre Hauptbezugsquelle. Im Falle eines Typs von Grundvertrauen also, dass mit Bewegung quasi „verheiratet“ ist, wird dieser Vorgang logischerweise potenziert.
Die therapeutische Schlussfolgerung ist eindeutig. Das Bewegungsgrundvertrauen (d.h. der hier postulierte Typ von Grundvertrauen) muss befreit werden. Mehr Bewegungsvertrauen bedeutet mehr positiven Schub, sprich Antrieb und Motivation. Wachsendes Bewegungsvertrauen gibt mehr Motorik frei und befreite Bewegungsumsetzung schafft mehr Grundvertrauen dieser Sorte.[1]
Ein therapeutisches Verständnis hat sich angebahnt und kann nun formuliert werden. Wenn das Bewegungsgrundvertrauen unterbunden wird (aus welchen unterschiedlichen Gründen und Beweggründen auch immer), entsteht mehr Angst die sich motorisch Bahn bricht, weil es zur Natur dieses Grundvertrauens gehört, in ausgeprägter Form motorisch zu werden. Im positiven Fall schiebt der im Genesungsprozess befindliche MS-Patient gerne etwas an und ist offen für Bewegung, Eine erhebende Erfahrung!
Im negativen Fall blockiert sich die Bewegung und der betroffene Mensch schiebt Panik. Meine MS-Patienten konnten den Unterschied zunehmend wahrnehmen und sie konnten entsprechend beginnen, diesen Prozess selber zu regulieren. Die Grundängste werden nun beherrschbar. In der Auseinandersetzung zwischen Grundvertrauen und Grundängsten, überwiegt zunehmend das eigene Vertrauen.
Panik musste zuvor irgendwie unter Kontrolle gebracht und mit Mühe beherrscht werden. „Bloß keine Panik bekommen“, lautete das Credo. Das neue Credo lautet ungefähr so: „Nur weiter, mutig, denn ich traue mich etwas!“.
Panik sorgte zuvor dafür, dass der Radius des Bewegungsvertrauens beschränkt wird. Ein Teufelskreis, aus dem nun die Entfaltung des Bewegungsvertrauens herausführen kann. Mehr an Bewegung gebundenes Vertrauen heißt, dass der jeweilige Patient sich mehr traut und dann mehr bewegt, und wenn er sich mehr bewegt, dann mehr vertraut.
Jeder kann sich vorstellen, welche Erleichterung diese neue Behandlungsoption in sich trägt!
Motivationsschübe prägen nach und nach den therapeutischen Verlauf. Das Leben neben der Krankheit erhält einen gesunden Anschub. „Etwas Neues ausprobieren“, „sich wieder mehr zutrauen“, „wieder etwas anfangen, was schon aufgegeben wurde.“
Eine zentrale Aufgabe von Psychotherapie, nämlich die Lebensqualität zu steigern und die Belastung der Nerven mit Angst und Stress zu mindern, konnte in vielen Fällen erfüllt werden.
Regeneration
Die letzten Jahre waren somit von neuen Erkenntnissen und erfreulichen Resultaten beflügelt. Die eingehende Erforschung menschlicher Bindungsvorgänge haben mich zu einem weiteren verblüffenden Tatbestand geführt. Er betrifft ganz generell den Zusammenhang von Gesundheit und gelungener Bindung. Eine der zentralen Fähigkeiten, die den Menschen gesund erhalten, ist die Fähigkeit zur Regeneration. Diese Fähigkeit zur Erneuerung findet sich auf der zellulären Ebene, sie findet sich in jedem Organ und eben [2]auch in der Psyche.
Das erste Resultat der therapeutischen Bemühungen, dass intrinsisch begründetes Grundvertrauen, sich in intrinsisch begründeter Eigenmotivation Bahn bricht und dem Menschen auf Vertrauen gründende Schubkraft verleiht, ist für sich bereits hochinteressant und erfreulich. Der zweite Aspekt, den die Beobachtung der unterschiedlichen Typen von Grundvertrauen hervorbrachte, übertrifft diese Einsicht noch. Sie bezieht sich auftraf die Fähigkeit zur Regeneration. So wie der kleine Mensch, sich erholen kann und bei Mama (oder wem auch immer) wieder „auftankt“, so konnte ich feststellen, dass mit der wachsenden Fähigkeit zur Selbstberuhigung, die mit dem intrinsisch begründeten Grundvertrauen verbunden ist, auch die Fähigkeit zur Regeneration zunimmt. Die Rolle des Grundvertrauens beim Menschen bekommt dadurch eine neue Dimension. Grundvertrauen ist nicht nur wichtig, um sich sicher zu fühlen, um enge Beziehungen eingehen zu können, oder den Dingen ihren Lauf zu lassen, auch wenn man eben nicht voraussagen kann, wie dieser Lauf der Dinge denn ausgehen mag.
Die bisherige Dimension „Grundvertrauen ist die Basis für gelingende Bindung“ folgt der üblichen Denkweise, dass Grundvertrauen sich auf die Beziehung sowohl zur Realität als auch zu den festen Bezügen im Leben positiv auswirkt. Die neue Dimension besteht nun darin, dass Grundvertrauen im Grunde darüber hinaus auch noch der Sicherstellung von Regeneration dient. Mit anderen Worten: Je erholter der Mensch ist, umso stärker ist sein Grundvertrauen und umgekehrt. Stimmt auch diese These, dann dient Grundvertrauen sowohl dazu die Grundlage für selbstsichere Bindungen zu schaffen, als auch die eigene Gesundheit zu stützen und zu festigen.
Der Zusammenhang, dass Grundvertrauen sich direkt an die Fähigkeit zur Regeneration bindet, hat erhebliche therapeutische Schlussfolgerungen. Schließlich prägen Erschöpfungszustände (also ein Mangel an ausreichender Regeneration) viele Krankheitsbilder.
Die Nachricht, so viel ist klar, gibt auch mir einen beträchtlichen Motivationsschub. Wird es in Zukunft möglich sein, Regeneration zu schaffen, wo es bisher keine Regeneration zu geben schien? Der Gedanke an meine MS Patienten liegt nahe. Erschöpfung und Bewegungseinschränkung sind hier beständige Wegbegleiter. Das derzeitige therapeutische Ziel bleibt bescheiden und ist ohne Frage lohnenswert. Die Stärkung und Entfaltung des ureigenen Grundvertrauens bewirkt eine Reduktion an motorischen Ängsten (Panik) und reduziert dadurch beträchtlichen körperlich und psychisch wirksamen Stress. Das Grundvertrauen wächst, der Mensch traut sich wieder was! Die neu gewonnene Motivation öffnet den Blick für neue Horizonte. Der Einengung der Wahrnehmung auf Krankheit, üblicherweise eine Folge von langandauernder Krankheit, wird entgegengewirkt. Im Leben mit einer Krankheit gibt es neue Zuversicht und wieder einen neuen Schub. Es gibt Anlass zu Hoffnung und meine Patienten werden mich, wie immer, über die Entwicklung ihrer, hoffentlich wachsenden Regenerationsfähigkeit informieren, mit mir Freud und Leid teilen und mir weiterhin – worüber ich sehr dankbar bin – ihr so eindrucksvoll kostbares Vertrauen schenken.
Zur Person
Dipl. Psychologe Michael Munzel hat mit der Bindungsenergetik eine Therapieverfahren entwickelt, in dessen Zentrum der Aufbau von gesunder Widerstandsfähigkeit, von Regenerations- und Belastungsfähigkeit steht. Sein Verständnis von Gesundheit und Bindung wird in Form therapeutischer Fortbildungen, in Einzeltherapie und Supervision im ganzen deutschsprachigen Raum gelehrt und praktiziert.